Burnout - mein ganz persönlicher Jakobsweg

Freitag, 29. März 2013 0 Kommentare
Mai 2007 - Diagnose - "schweres depressives Erschöpfungssyndrom" - Beginn meiner eigenen Lebenskrise -  Beginn meines zweijährigen Leidensweges - Leidenssweg meiner Familie, meines Arbeitgebers und meiner Angehörigen. Über diese Krise könnte ich allein schon ein Buch schreiben. Das tue ich, jetzt jedenfalls, hier nicht - aber es war auch der Beginn von ganz vielen neuen Begegnungen und Erfahrungen, die ich ohne meine Krankheit niemals gemacht hätte.

Es ist ein langer Weg ... nicht nur der, den man LAUFEN muss.

Habe Krankenhäuser kennengelernt, war auf Kur, war mehrmals im Kloster und ich ging im Sommer 2008 meinen ganz persönlichen Jakobsweg. Davon soll dieser Brief erzählen.

Anfang Juni 2008 - seit über einem Jahr hat mich mein Burnout fest in seinen unerbittlichen, festen Krallen. Ein Jahr mit Arztterminen, Tabletten, Psychotherapien, Gesprächen, auf- und mehr abs liegt hinter mir. Gebracht hat alles scheinbar nichts - es geht mir mit mir und meiner Krankheit nach wie vor schlecht, sehr schlecht sogar. Meine Tage und Nächte sind von Grübeln und Hoffnungslosigkeit geprägt - und zwar fast jede Minute des Tages und fast jede Minute der Nacht.

Ich habe ein Gespräch mit meinem Nachbarn Robert - also ich würde dir so gern helfen, wenn ich nur wüsste wie. Du  - ich war vor ein paar Jahren auf dem Jakobsweg in Spanien. Wenn es dir irgendwie hilft - also ich würde innerhalb von 2 Wochen mit dir starten - also sage ich - gehen wir - als ich nach Hause ging und die Neuigkeit bekanntgabt, bereute ich meine Entscheidung schon. Das ist auch eine ganz schlimme Eigenart der Krankheit, dass ich nicht mehr in der Lage war,  Entscheidungen zu treffen. Früher liebte ich es, Dinge schnell zu entscheiden.

1. Erkenntnis der Krise - Entscheidungen einfach treffen -  nicht lange überlegen

- das lange Überlegen bringt absolut keine "bessere, richtigere" Entscheidung. Im Gegenteil, das ständige Grübeln und überlegen macht mich kaputt. Also - es gibt nur ein Ja oder ein Nein. Also Ja - wir gehen den Jakobsweg. Ich bin so froh, dass mein Nachbar alles organisiert, Reiseroute, Zugkarten etc. - ich muss eigentlich nur meinen Rucksack packen - und ehrlich gesagt, das war mir schon zu viel - wie soll ich den Jakobsweg schaffen, wenn ich nicht einmal in der Lage bin, einen 9 kg Rucksack für 6 Wochen zu packen.

Zweites Problem - meine Schuhe - jeder weiss, dass die Schuhe etwas ganz Entscheidendes auf dem Jakobsweg sind. Ich habe Schuhe, die mir so was von passen, die so was von eingelaufen sind, aber sie sind alt und ich vermute, nach spätestens 200 km der geplanten 800 km "fallen" sie auseinander. Also - Todsünde begehen?? - einen neuen Schuh kaufen? Wieder so eine schwierige Entscheidung. Ich entscheide mich für einen neuen Schuh aus dem Fachgeschäft in unserem Ort.

2. Erkenntnis - auch Todsünden können gut ausgehen

- ich habe niemanden getroffen auf dem gesamten Jakobsweg, der keine Blasen an den Füssen hatte - NIEMANDEN - ausser mich. Ich hatte absolut keine Blase - ich hatte den richtigen Schuh und ich hatte zwei Paar teure, aber sehr gute Wandersocken - und ich habe diese Socken pracktisch nie gewaschen - immer nur "ausgelüftet" über Nacht. Ergebnis -keine Frau näher kennengelernt wegen der Socken - aber -  keine Blasen - auch wegen der Socken.

15.6.2008 - unser Jakobsweg beginnt - wir (Robert und ich) fahren mit dem Zug nach Saint-Jean-Pied-de-Port, einer Stadt mit 1477 Einwohnern in der französischen Region Aquitanien. Sie liegt direkt an der Grenze zu Spanien, 76 km von der spanischen Stadt Pamplona entfernt.

Die Stadt ist ein wichtiger Startpunkt am Jakobsweg  und zugleich letzte Station auf französischem Boden. Der Pilgerweg setzt sich dann im Camino Francés fort, der in die Pyrenäen, über den Ibañeta-Pass, nach Pamplona und schließlich nach Santiago de Compostela führt.

Der Camino Francés ist der klassische Jakobsweg, der auf einer Strecke von knapp 800 Kilometern quer durch Nordspanien von den Pyrenäen nach Santiago de Compostela führt.

Also - diese 800 km das war unsere Herausforderung und unser Ziel. Zuerst geht es über die Pyrenäen - schlechtes Wetter, Kälte und ein Rucksack, den man am liebsten in den nächsten Graben werfen würde. Wie weh tun die Riemen dieses schweren Ungetüms. Ich hab doch nicht viel mitgenommen - oder doch?

3. Erkenntnis - beim Rucksack packen Zuhause - mindestens 1/3 am Schluss wieder rauswerfen

- man braucht eigentlich gar nichts auf diesem Weg - nur Füsse, die einem tragen von Tag zu Tag und gute Gedanken, die einem ebenfalls tragen - von Tag zu Tag. Der Rest kommt, der Rest ergibt sich. Natürlich habe auch ich zu viel mitgenommen, aber das schöne am Jakobsweg ist, man bezahlt sofort für seine Fehler - das ist gut und sehr lehrreich für das nachfolgende Leben.

Der erste Tag - Pilgerpass abholen und los gehts - immer aufwärts - rauf auf diesen Pass, der Frankreich mit Spanien verbindet - und es wird immer kälter, die Schultern tun weh von dem "scheiss" Rucksack. Dann kommt Schnee - und knöcheltiefe Wege - die Schuhe - alles nass und verdreckt - Mann oh Mann, was hab ich denn da angefangen?

Dann - der erste Tag ist geschafft - die riesige ehemalige Kirche, die zu einer Pilgerherberge umfunktioniert wurde, ist unser erster Halt - Pilgerpass abstempeln lassen - und dann rein in die Kirche - ein Schock - kalt, eng, Stockbetten über Stockbetten, alles kalt und nass - eine Dusche für die Frauen und eine Dusche für die Männer - mich friert es und ich liege in meinen Schlafsack - ungeduscht - zu kalt - und dann die Nacht - ich nehm meine Schlaftablette, mein Freund Robert schläft sofort, ohne Schlaftablette.

Das wird die nächsten Wochen so bleiben - er schläft immer sofort ein ohne Tabletten, ich schlafe nicht ein mit Tabletten. Schöne Scheisse. Dann das Schnarchen und der Lärm - schon wieder bereue ich, diesen Schwachsinn zugesagt zu haben. Am Morgen - rein in die noch nicht ganz trockenen Sachen und weiter gehts - jetzt tut der Rucksack von der ersten Sekunde an weh - weil die Schultern blaue Striemen haben.

Na Bravo - aber ich kann doch nicht am 1. Tag aufgeben, das tut doch niemand da - also weiter - und so geht es weiter und je näher wir Spanien kommen, desto besser wird das Wetter, desto besser werden die Wege und desto besser geht das mit dem Rucksack.

4. Erkenntnis - mit der Zeit gewöhnt man sich an alles
- und alles wird leichter und einfacher mit der Zeit. Mein Begleiter Robert ist ca. 20 Jahre älter als ich - er ist gut, sehr gut beieinander für sein Alter - aber ich habe ein ganz anderes Tempo beim Laufen wie er - ich laufe viel, viel schneller als er. Also entscheiden wir uns nach ein paar Tagen - wir MÜSSEN getrennt laufen.

5. Erkenntnis - niemals auf dem Jakobsweg das Tempo eines anderen gehen
- und auch das ist eine Erkenntnis für das Leben - nie, jedenfalls nicht auf Dauer langsamer laufen als man laufen will, aber auch nie, jedenfalls nicht auf Dauer schneller laufen, als man laufen will. Nicht von anderen (Partner, Arbeitgeber, Kinder, Freunden) einen anderen Rhythmus aufdrängen lassen.

Für meinen Jakobsweg bedeutet das - wir trennen uns, wir vereinbaren wann und wo wir uns wieder treffen, aber wir laufen allein. 

Und ich laufe schnell - ich liebe es, meinen Körper zu fordern - und ich liebe es meinen gesunden Körper zu spüren. Mein Körper gibt mir verlorengegangenes Selbstvertrauen zurück. Mein Körper dankt es mir, dass ich seit 30 Jahren Fußball spiele, laufe und ihn ständig bewege. Er macht mir eigentlich auf den ganzen 800 km nicht ein einziges Mal ein Problem. Er funktioniert blendend.

6. Erkenntnis - jeder hat seinen eigenen Grund für seinen Jakobsweg - jeder!
Und JEDER hat auch seinen 2. Rucksack dabei. Seinen ganz persönlichen Rucksack in Form SEINES Problems.

So - jetzt beende ich mal - Fortsetzung folgt - an einem der nächsten Tage.

In Gedanken - euer G.Ender

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